Jiddu Krishnamurti’s spiritueller Wachstumsprozess

(Auszüge aus dem Kapitel 11 des Buches: „Ein Leben in Freiheit“ von Pupul Jayakar )

 

Gegen Ende Mai ereigneten sich einige Zwischenfälle, die ein Licht auf die verborgene, mystische Seite in Krishnamurtis Leben warfen. Im August des Jahres 1922, als er in Ojai ( Kalifornien) durch schmerzhafte Phasen seines spirituellen Wachstums gegangen war, waren zwei vertrauenswürdige Freunde bei ihm gewesen. Es war kein Zufall, dass dies auch bei den meisten anderen Vorfällen dieser Art der Fall war. Das Wissen um die Notwendigkeit, den Körper des Weisen zu schützen, während er spirituelle Transformationen und Bewusstseinsveränderungen durchmacht, ist tief in der indischen mystischen Tradition verankert, denn der Körper ist in diesen Momenten außerordentlich sensibel, verletzlich und frei von jeglicher Ego-Verhaftung.

Den physischen Körper zu schützen war die hauptsächliche und vielleicht sogar einzige Funktion jener Personen, die in Krishnaji’s ( so wurde er von seinen engsten Vertrauten genannt) Nähe waren, als er die enormen Energietransformationen  durchmachte, die bis dahin unerschlossene Bereiche seines Gehirns öffneten.

Der wesentliche Punkt ist, dass es Menschen waren, denen er vertraute, die dafür sorgten, dass dem Körper nichts zustieß und die vor allem nicht mit starken Emotionen auf die Ereignisse reagierten.

Die seltsamen Vorfälle, die sich 1948 in Ooty ( Indien ) ereigneten, erstreckten sich über einen Zeitraum von etwas drei Wochen. Es begann eines Abends, als wir mit Krishnaji einen Spaziergang machten. Er sagte plötzlich, er fühle sich nicht wohl und wollte nach Hause zurückkehren. Als wir ihn fragten, ob wir einen Arzt rufen sollten, sagte er: „Nein, das ist es nicht.“ Er gab uns keine weitere Erklärung. Zu Hause angekommen, ging er sofort in sein Zimmer und sagte zu Friedmann, er wolle unter keinen Umständen gestört werden; aber er bat Nandini und mich, in sein Zimmer zu kommen. Er schloß die Tür und sagte, wir sollten keine Angst haben, was auch immer geschehe, und wir dürften unter gar keinen Umständen einen Arzt rufen. Dann bat er uns, uns still hinzusetzen und ihn im Auge zu behalten. Er sagte noch einmal, wir sollten uns nicht fürchten; wir dürften ihn weder ansprechen noch aufwecken, aber wir sollten seinen Mund schließen, falls er ohnmächtig würde. Auf keinen Fall dürfen wir den Körper allein lassen.

 

Obwohl die Begegnung mit Krishnaji mich tief berührt und überwältigt hatte, hatte ich meinen kritischen Verstand behalten und beobachtete die Vorgänge sehr genau. Er schien extreme Schmerzen zu haben und klagte über Zahnschmerzen, Schmerzen im Nacken, auf der Kopfmitte und in der Wirbelsäule. Plötzlich rief er inmitten seiner Qualen aus: „Sie reinigen das Gehirn, oh, sie machen es völlig leer!“

Dann wieder beklagte er sich über extreme Hitze, und sein Körper transpirierte stark. Die Schmerzen wanderten in verschiedene Körperteile, und ihre Intensität variierte ebenfalls. Nichts konnte die Schmerzen beeinflussen, sie kamen und gingen willkürlich.

Während dieses Zustands erschien uns der auf dem Bett liegende Körper wie eine leere Hülle. Seine Stimme war schwach und kindlich. Doch dann schien plötzliche eine hohe Energie in den Körper einzuströmen. Krishnaji setzte sich mit geschlossenen Augen auf und kreuzte die Beine. Der zerbrechliche Körper schien auf einmal zu wachsen und den ganzen Raum auszufüllen. Da war eine fast greifbare, pulsierende Stille. Wir fühlten uns von einer starken Schwingung eingehüllt. Auch seine Stimme hatte nun Kraft und Tiefe: „ Wenn ich verrückt werde müsst ihr auf mich aufpassen - hoffentlich werde ich nicht verrückt“ Er sah alt aus, und sein Gesicht war wieder schmerzverzerrt. Immer wieder ballte er die Fäuste, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Nach zwei Stunden wurde er wieder ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, waren seine ersten Worte: „Der Schmerz ist verschwunden. Tief im Innern weiß ich, was geschehen ist. Ich bin mit Treibstoff gefüllt worden. Der Tank ist voll.

Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Dieser Schmerz läßt meinen Körper wie Stahl werden - aber, oh, so biegsam, so geschmeidig, ohne einen Gedanken. Es ist wie eine Überholung - eine Untersuchung.“ Wir fragten ihn, ob er die Schmerzen nicht beenden könne. Er antwortete: „ Du hast ein Kind geboren. Konntest du es hindern, als es herauskommen wollte?“ 

Kurze Zeit später brachte Maurice etwas Suppe und ging wieder. Krishnaji hatte das Licht ausgemacht. Er setzte sich aufrecht mit überkreuzten Beinen hin. Er hielt die Augen geschlossen, aber sein Gesicht zeigte keine Spuren der erlittenen Qualen. Es schien, als würde sein Körper größer werden. Wir konnten förmlich die starke Kraft spüren die ihn belebte: die Schwingungen erfüllten das ganze Zimmer, füllten unsere Augen und Ohren, und wir hörten Klänge die aus dem Nichts zu kommen schienen.

Krishnaji öffnete die Augen und fragte: „ Es ist etwas geschehen - habt ihr etwas gesehen?“ Wir erzählten ihm was wir gespürt hatten.

Anfangs begannen diese außergewöhnlichen Zustände gegen sechs Uhr abends und endeten etwa um halb neun, doch später dauerten sie manchmal bis Mitternacht an. An Tagen an denen er Verabredungen hatte ( zum Beispiel mit Nehru ), geschah nichts. Gegen Ende dieser Phase dauerten die Zustände immer länger, und einmal ging es die ganze Nacht hindurch. Kein einziges Mal beklagte er sich oder versuchte aus dem Zimmer zu laufen. Er sprach auch nicht davon, dass ihn bestimmte Gedanken störten oder quälten.

 

18.Juni 1948: Krishnaji bat uns, gegen sieben Uhr Abends in sein Zimmer zu kommen.Er war unterwegs. Wir warteten auf seine Rückkehr, und wieder wirkte er wie ein Fremder, als er das Zimmer betrat. Er schrieb etwas in sein Notizbuch und kam dann zu uns herüber. Er sagte: „Sie haben mich ausgebrannt, damit die Leere noch größer wird. Sie wollen sehen wie viel von ihm ich aufnehmen kann. Kennt ihr diese Leere? Wenn nicht ein einziger Gedanke existiert? Wenn der Verstand vollkommen still ist? Dies ist eine Energie - wie in einem Dynamo.

Wenn wir bei Krishnaji waren, mussten wir normalerweise nicht Bestimmtes tun, und doch schien unsere Gegenwart notwendig zu sein. Er war während dieser Phasen vollkommen unpersönlich - da war keine Emotion, keine persönliche Beziehung zu uns. Obwohl er auch körperlich litt, waren am nächsten Tag nicht die geringsten Spuren auf seinem Gesicht oder seinem Körper zu entdecken. Er sprühte vor Energie, war voller Freude und Übermut.Nichts in seinem Verhalten oder in seinen Worten erinnerte an die nächtlichen Ereignisse. 

Jedes mal wenn Krishnamurti durch diese Zustände gegangen war, war der Raum, war die ganze Atmosphäre von einer Stille durchdrungen, die uns ein Gefühl von Weite, Tiefe und Kraft gab. Als Nandini und ich später unsere Notizen verglichen, stellten wir fest, dass wir beide das gleiche gefühlt hatten. Beim Abschied in Ootacamund sagte Krishnamurti zu uns: „Geht nach Bombay und ruht euch aus. Ihr habt viel durchgemacht.“